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 Die neuen Spiesser - Rezension aus Freitag 39 S. 15

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BeitragThema: Die neuen Spiesser - Rezension aus Freitag 39 S. 15   Die neuen Spiesser - Rezension aus Freitag 39 S. 15 Icon_minitimeMo Okt 15, 2007 1:02 pm

28.09.2007
Reinhard Olschanski
Auferstanden aus Ruinen

ÜBERMOTIVIERT
In seinem Buch "Die neuen Spießer" seziert Christian Rickens die "Neue Bürgerlichkeit"

Fußballfans kennen das Phänomen der Übermotivation. Besonders deutlich wird es bei späten Einwechslungen, so um die siebzigste Minute herum, wenn die Konzentration auf dem Platz nachläßt, Spieltaktiken sich auflösen und die Partie in den offenen Schlagabtausch übergeht. Das ist der Moment des "Jokers", des "Stoßstürmers", des oft Übersehenen, des lange Verletzten und frisch Genesenen, der die schon geschwächte Abwehrreihe des Gegners durchbrechen soll. Manchmal geht das Kalkül auf, nicht selten endet alles im Debakel. Der Eingewechselte will den Erfolg erzwingen und wird nach der zweiten Grätsche vom Platz gestellt.

Ein Phänomen der Übermotivation beschreibt auch der Wirtschaftsjournalist Christian Rickens in seinem Buch Die neuen Spießer. Das Buch ist eigentlich ein Aufschrei aus der Tiefe des Raumes der Medienwelt, das im Namen vieler Medienmenschen geschrieben sein könnte. Der Autor zieht die rote Karte in einem Spiel, in dem es keinen wirklichen Schiedsrichter gibt, aber Kriterien wie Fairness, Klarheit, gute Recherche - und eine journalistische Selbstbescheidung, für die das Medium nicht zusammenfällt mit dem Inhalt von Berichterstattung. Diese guten, alten "bürgerlichen" Pressetugenden bringt der Autor gegen die medialen Protagonisten einer "Neuen Bürgerlichkeit" in Anschlag, die sich hohe Ziele gesteckt haben. Sie wollen selbst die politisch Handelnden, die Künstler und Wissenschaftler, die Visionäre des Sozialen und vor allem die Bestsellerautoren sein, über die man in den Medien spricht. Und sie wollen das "Ereignis" zwingen, für das sie stehen, das sie herbeschreiben wollen und über das alle reden sollen: die "Neue Bürgerlichkeit".

Rickens zeigt anhand der Begriffskarriere, dass es bei der Neuen Bürgerlichkeit nicht um bürgerschaftliches Engagement geht, um den Citoyen im Engagement für das Allgemeine, sondern um Biedermeier als große Welt, um einen ziemlich spießigen und verbissenen Neukonservativismus, der sich als epochaler Kulturwandel ankündigt und verkauft. Es geht um Nation, Christentum, Familie und Abendland, um Werte und Haltungen, die in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch in Geltung gewesen sein sollen, um dann von den "68er" bekämpft, besudelt und zersetzt zu werden. Diese Werte sollen nun auferstehen im Glanz der Neuen Bürgerlichkeit!

Die Begriffskarriere führt Rickens auf einen wissenssoziologischen Anknüpfungspunkt, der viel mit Berufskarrieren zu tun hat. Der Kulturkampf der Neubürgerlichen erscheint darin als Generationenkonflikt, als Konstruktion eines kulturellen Überbaus, der Legitimation verschaffen soll - bei und nach der Übernahme von Medienmacht-Bastionen, die lange von "68ern" gehalten wurden. Hier klärt sich etwas vom kämpferischen "Mehr", von der besonderen Verbissenheit der Neubürgerlichen. Es ist die Über-Motivation eines Karriereanspruchs, der so epochal nicht ist, wie er scheinen möchte. Bei einem Großautor des konservativen Lagers, beim späten Martin Heidegger, hätten sie übrigens lernen können, dass das "Ereignis", dass einen neuen kulturellen Horizont aufspannt, "sich ereignet" und nicht erzwungen werden kann. Erzwungene Neubürgerlichkeit führt mitten hinein in neue Spießigkeit!

Die stärksten Kapitel des Buches von Rickens sind jene, in denen er ins Detail geht, zum Beispiel beim vorgeblichen Sündenfall der "68er", dem "Werteverfall", den sie eingeleitet haben sollen. Rickens rekonstruiert diesen ganzen Prozess schlicht als Wertewandel und kulturellen Lernschritt, der Individuen mit Fähigkeiten ausstattet, die sie brauchen, um sich in der modernen Welt zurecht zu finden. Zum Beispiel mit der Fähigkeit, wechselnde soziale Rollen einnehmen zu können und nicht in jenen starren Geschlechts- oder Arbeitsrollen zu verharren, die die Neubürgerlichen wieder verbindlich machen wollen. Es geht um Fähigkeiten zu Toleranz und Kreativität, die mit der Multikulturalität und dem Übergang zur Wissensgesellschaft immer wichtiger werden. Es sind neue Wertekategorien wie etwa der Anspruch auf Nachhaltigkeit, der unerlässlich ist bei der Bearbeitung der globalen Umwelt- und Klimaprobleme.

Überaus erhellend sind die Beschreibungen von neubürgerlichen Distinktionspraxen, vor allem das Kapitel über die Entdeckung der "Unterschichten" durch die Neubürgerlichen, etwa im Ekel, den der publizistisch umtriebige rechtskonservative Verfassungsrichter Udo di Fabio angesichts von Menschen empfindet, die "bei der Wahl ihrer Kleidung, in der Art, wie sie speisen oder wie sie reden, inzwischen wieder dem Niveau vorkultureller Zeiten zuzustreben scheinen." Ganz zu schweigen davon, dass sie "schon morgens mit einer Alkoholfahne in öffentlichen Verkehrsmitteln reisen". Fehlen nur noch die ausgeblichenen deutschen Fahnen in den Fenstern, durch die die Wohnquartiere der "Unterschichten" seit dem Fußballsommer 2006 deutlich bezeichnet sind. Die ästhetisch-sozialen Grenzziehungen der Neubürgerlichen konfrontiert Rickens mit der Geschichte der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahrzehnten und zeigt, wie die Solidarität mit Arbeitslosen immer mehr einer kulturellen Abwertung gewichen ist, die ausgrenzt und symbolisch immunisieren soll gegen eine soziale Deklassierung, die inzwischen auch in der "Mitte der Gesellschaft" zur realen Bedrohung geworden ist.

Mit Zahlen und Fakten bringt Rickens Aufklärung in die verquasten neubürgerlichen Anschauungen zum vermeintlichen demographischen Niedergang des deutschen Volkes ("Bevölkerungsdämmerung"), in Eva Hermans apologetischen Kurzschluss vom Familienleben der Höhlenmenschen in das, was die Idealfamilie schlechthin sein soll, nämlich die bundesdeutsche der fünfziger Jahre, in Matthias Matusseks These von Hitler als "Freak-Unfall" der Geschichte, in die antiökologische Agenda der Neubürgerlichen, in deren These vom Sittenverfall des deutschen Theaters oder in die Widersprüche im neubürgerlich-konservativen Kampf gegen Multikulturalität und speziell gegen Migranten mit muslimischem Hintergrund. Denn gemäß der Logik der neuen Bürgerlichen müsste ja gerade "in Berlin-Neukölln und Hamburg-Wilhelmsburg eine ganze Generation von sozial kompetenten kleinen Genies heranwachsen. Schließlich dominiert unter den dort lebenden Migranten das familiäre Traummodell aller Konservativen: klare männliche und weibliche Rollenbilder, die Mutter nicht berufstätig und rund um die Uhr für die Kinder da, viele Geschwister - genau wie es Matussek und Kollegen im Spiegel fordern."

Eine etwas ausführlichere Darstellung der Querbezüge zwischen den deutschen Neukonservativen und dem Neocons in den USA und in der Bush-Administration hätte man sich gewünscht. Zudem werden die Bezüge und oft komplementären Funktionen von Neoliberalismus und Neokonservativismus bei Rickens eher verstellt als herausgearbeitet. Sehr gut dann aber wieder die Darstellung der Rezeptionsprobleme, auf die die Neubürgerlichen im klassischen "bürgerlichen" Lager stoßen. Manager in großen Unternehmen können nur wenig anfangen mit diesem deutschtümelnden Provinzialismus. Und in den Teilen der Union, die zaghaft versuchen, die Politik ihrer Partei zu modernisieren, beim Krippenausbau etwa oder in der Großstadtpolitik, dürften viele Überlegungen der Neubürgerlichen als unzeitgemäße Unterstützung der stoibernden Traditionsbataillone gelten, die überall hinführen, nur nicht zur Mehrheitsfähigkeit.

Vielleicht liegt in diesem Abstoßungseffekt so etwas wie die "List der Vernunft" im neubürgerlich-regressiven Konstrukt - das Kohl-Adenauersche Biedermeier noch einmal aufzupolieren, bevor es endgültig im Museum der Mentalitätsgeschichte verschwindet. Es wäre so der unfreiwillige Geburtshelfer einer längst überfälligen und in anderen Ländern längst vollzogenen Öffnung des konservativeren Teils der Gesellschaft hin zur weltoffenen und pluralen Gesellschaft, und damit auch zu Werten, die man mit dem Etikett der "68er"-Werte inkriminieren will. Doch ob mit oder ohne "List der Vernunft" - das Buch von Christian Ricken ist Pflichtlektüre für jeden, der die "Kulturkämpfe" in der heutigen Medienlandschaft besser verstehen will.

Christian Rickens: Die neuen Spießer. Von der fatalen Sehnsucht nach einer überholten Gesellschaft. Ullstein, Berlin 2006, 283 S., 14 EUR
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